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Die Stadt als Organismus und Stätte des Lebens
Foto: Klaus Zahn

Die Stadt als Organismus und Stätte des Lebens

22. September 2022

Die Stadt als Organismus und Stätte des Lebens

"Das Leben besteht in der Tat nicht aus Mengen und Zahlen, sondern aus konkreten Dingen wie Menschen, Tieren, Blumen und Bäumen, aus Stein, Erde, Holz und Wasser, aus Städten, Straßen und Häusern, aus Sonne, Mond und Sternen, aus Wolken, aus Nacht und Tag und wechselnden Jahreszeiten. Und wir sind hier, um uns um diese Dinge zu kümmern."
Christian Norberg Schulz, Architecture - Meaning and Place, 1988
In diesem und den folgenden Beiträgen betrachten wir Stadt als einen lebendigen Organismus[1] im Kontext unserer Erde. Organismen sind lebendige Ganzheiten, in denen die Funktion der einzelnen Teile und Organe nur in Hinblick auf das Ganze erkannt werden können. Die Teile und Organe sind optimal aufeinander abgestimmt. Sie haben zum Ziel, Leben zu ermöglichen und zu fördern und erreichen mit geringem Material- und Energieeinsatz optimale Ergebnisse. Ihre Wirkungen sind umfassend nützlich. Alles hat seinen Platz und befindet sich am richtigen Ort. Die räumlichen Zuordnungen, Abstände und Entfernungen der unterschiedlich großen Organe sind effektiv aufeinander abgestimmt und erleichtern die Bewegung und Orientierung im Raum. Jedes Organ ist unabhängig von seiner Größe wichtig. Wird ein Organ geschwächt oder fällt es aus, dann ist der gesamte Organismus empfindlich gestört, krank oder nicht mehr lebensfähig. Die Dinge sind in einem stetigen Fluss und befinden sich doch im Gleichgewicht. Sowohl die einzelnen Bestandteile als auch das große Ganze wirken sinnhaft zusammen und fördern lebendige Vielfalt. Die wesentlichen Prozesse sind dabei mit dem Auge nicht sichtbar, wie man beispielsweise bei einem Baum an den Wurzelhärchen oder nur mit dem Mikroskop erkennbaren Spaltöffnungen jedes einzelnen Blatt erkennen kann.

Die Biologie ist die Wissenschaft vom Leben und schafft Wissen zum Wohl der Menschen und des Lebens. Die Stadt der Zukunft wird sich zunehmend an dieser Disziplin orientieren müssen, wenn sie eine Stadt für Menschen sein soll, die vielfältiges Leben fördert und diesem Leben nützt. Indem diese Zukunftsstadt nützlich, lebensfähig und wertvoll ist, ermöglicht sie ein Leben in Würde, die wir an jeder Stelle unangetastet sehen wollen.

Die Bionik als Teilgebiet dieser Wissenschaft liefert uns schon seit langem erstaunliche Beispiele aus der Natur, die zeigen, wie Leben zur Entfaltung kommt. Sie benutzt dabei von uns bislang unerreichte Hochtechnologien, die sich im Laufe von Millionen von Jahren entwickelt haben. Sie bringen aus wenig das Bestmögliche hervor. Die Natur entwickelt sich dabei evolutionär innerhalb der Gesetzmäßigkeiten unseres Heimatplaneten: Die Erde ist energetisch offen und stofflich geschlossen. Das bedeutet, dass wir einerseits 10.000-mal so viel Sonnenenergie kostenlos bereitgestellt bekommen, wie wir pro Jahr benötigen und andererseits, dass bestimmte Stoffe, Elemente und Ressourcen endlich sind, wobei manche von ihnen erneuerbar sind, weil sie nachwachsen.

Foto: Klaus Zahn
Zu den wesentlichen Merkmalen der Natur gehören Rückkopplungsprozesse mit dem Ziel kontinuierlicher Anpassung, Erleichterung und Verbesserung der Lebensbedingungen. Auf Mensch und Gesellschaft übertragen könnte man sagen, dass Rückkopplung Verantwortung stärkt. Das Prinzip Verantwortung[2], wie es Hans Jonas 1979 formulierte, muss zur verpflichtenden Handlungspraxis auf allen gesellschaftlichen Ebenen vor allem in den Führungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsebenen werden. Dieses Prinzip ist aus heutiger Sicht auch auf Flora und Fauna anzuwenden. Bei allem erforderlichen Wandel ist zu beachten, dass nur Veränderungen, die eine Verbesserung darstellen, Ausdruck einer positiven Entwicklung sind. Viel zu oft gab es in der jüngsten Vergangenheit gerade im Bezug zur gebauten Umwelt einen permanenten, fast zwanghaften Veränderungsdruck mit Veränderungen, die sich als Verschlechterungen herausgestellt haben.

"In dem Zeitraum, in dem ich tätig war, hat die moderne Welt eine tiefgreifende Krise durchgemacht. Unsere historischen Strukturen zerfallen immer schneller, die Natur wird Opfer von Verschmutzung und rücksichtsloser Ausbeutung, und der Mensch wird als bloßes ‘Menschenmaterial‘ behandelt. Im Allgemeinen ist der Mensch nicht mehr Teil einer sinnvollen Gesamtheit und wird der Welt und sich selbst fremd.“
Christian Norberg-Schulz; 1987
Von der obsoleten fossilen Stadt zur Stadt der Vielfalt und des Lebens

Der moderne Städtebau und die moderne Architektur sind sichtbarer Ausdruck des mechanistisch-materialistischen Weltbild der Neuzeit und prägen unsere gebaute Umwelt bis heute. Dem cartesianischen Weltbild folgend wird alles in der Welt als kausal erklärbare Tatsache betrachtet, darunter auch Mensch, Flora und Fauna. Die Welt mit allem, was lebt, wird als Maschine betrachtet, die man in ihre kleinsten Bestandteile zerlegen und beliebig wieder zusammenbauen kann. So hat Descartes einmal einen lebendigen Hund operiert, ohne ihn zu betäuben, da ein Apparat weder Gefühle noch Schmerzen kennt.

Le Corbusier, einer der markantesten Vertreter dieses Modells hat das Haus für die Obdachlosen in Paris erstmals in der Welt mit einer Klimaanlage ausgestattet, die Fenster blieben verschlossen. Im obersten Geschoß gab es eine Krankenstation für Kinder, die zunehmend unter Lungen- und Atemwegserkrankungen litten. Die Ärzte schlugen Alarm und baten LC, die Fenster öffnen zu dürfen, was dieser 2 Jahre lang verhinderte, da er dieses Anliegen als Verweigerung des Fortschritts betrachtete. Erst Ende der 1960-er Jahre gelang es einer amerikanischen Ärztin, dass auch kleine operative Eingriffe bei Säuglingen unter Betäubung erfolgten, statt bis dahin ohne, da man den Kleinkindern unterstellte, dass auch sie weder Gefühl noch Schmerz kennen würden.

Klaus Zahn: Der moderne Mensch
Mit diesem obsoleten Weltbild verbunden war die Suche nach dem kleinsten Teil, das die Welt im Innersten zusammenhält. Aus diesem Denkmodell heraus wurde das Haus zur „Wohnmaschine“ und der traditionell komplex vernetzte, integrierte Stadtorganismus in einzelne Funktionen – seine Bestandteile – zerlegt. Leitbild des „modernen Städtebaus“ wurde die funktional gegliederte Stadt mit wenigen Sektoren. Mit Beginn der 1960er Jahren wurde dieses abstrakte Gedankenkonstrukt weltweit flächendeckend in wiedererkennbaren gettoartigen Großsiedlungen gebaut. Das Ergebnis dieses Städtebaus ist die Auflösung der klassischen Stadt und die „funktionale“ Trennung in Sektoren für Wohnen (z.B. Großwohn-siedlungen in Trabantenstädten, Schlafsiedlungen an den grünen Stadträndern), Arbeiten (Industrie, Gewerbe, Büros), Einkaufen (Supermärkte, Kaufhallen, Outlet-Zentren) und Flächen für Erholung.

Diese räumliche Zergliederung hat große räumliche Entfernungen zwischen den Sektoren zur Folge und erfordert die autogerechte Stadt. Voraussetzung dafür ist unbegrenzt verfügbares, billiges Erdöl. Der „moderne Städtebau“ ist ein fossiler, dysfunktionaler Städtebau, der im Kontext Erde und Leben nicht tragfähig-, weil zerstörerisch ist. Er stellt eine Veränderung dar, die keine Verbesserung ist, sondern eine Verschlechterung. Nicht das Leben, sondern schleichende Zerstörung sind Folge dieses nicht ökologischen Konstrukts.

Was bis heute übersehen wird: Die räumliche Zerteilung hat auch zur sozialen Spaltung und Ausgrenzung großer Bevölkerungsgruppen geführt, obwohl uns diese baulichen Großstrukturen als sogenannter „Sozialer Wohnungsbau“ verkauft werden, ist er doch exklusiv, er schließt aus. Dieser moderne Städtebau fördert die pandemische Vereinsamung von immer mehr Menschen in unserer demokratischen Gesellschaft.

Welches Menschenbild liegt dem zugrunde? Diese aus der Zeit gefallene Ideologie ist den Menschen bis heute fremd. Sie widerspricht auch den Werten, Inhalten und Zielen einer  Demokratie, in der Freiheit, Gerechtigkeit und die Würde des Menschen an oberster Stelle stehen.

Wie können wir unsere Städte und Kommunen heilen und zukünftig so gestalten, dass sie sich stetig verbessern und Leben wieder fördern?

Das beleuchten wir in den kommenden Beiträgen.


[1] Der Begriff „Organismus“ wurde 1700 von dem Mediziner und Botaniker Georg Ernst Stahl als Gegenentwurf zum cartesischen Begriff des „Mechanismus“ gebildet. (Online-Wörterbuch Wortbedeutung.info)

[2] „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. Oder negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens.“ Das Prinzip Verantwortung, Hans Jonas, 1979.