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Plädoyer für die Renaissance der europäischen Stadt
Foto: Cristian Salinas Cisternas

Plädoyer für die Renaissance der europäischen Stadt

19. Juli 2022

Plädoyer für die Renaissance der europäischen Stadt

Aus den ursprünglichen europäischen Städten strömt uns eine Harmonie entgegen, wie die schönste Musik in vollen, reinen Klängen. An einer solchen Stelle begreifen wir die Worte Aristoteles, der alle Grundsätze des Städtebaus dahin zusammenfasst, dass eine Stadt so gebaut sein solle, um den Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen. Zur Verwirklichung des letzteren dürfte der Städtebau nicht bloß eine technische Frage, sondern müsste im eigentlichen und höchsten Sinne eine Kunstfrage sein.
Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Camillo Sitte, 1908.
Sind unsere städtischen Lebensverhältnisse noch menschenwürdig?
Gustav Heinemann, 1975
Mit falsch gebauten Städten kann man eine Gesellschaft und eine Demokratie genauso ruinieren, wie durch die Errichtung eines totalitären Regimes.
Hans P. Bahrdt, Soziologe, 1965
Die Zukunft der Menschheit liegt in den Städten von Morgen, und es wird nur in heilen Städten eine hoffnungsvolle Zukunft sein.
Hans Jochen Vogel, OB von München, 1972
Die Stadt lässt neue Formen der Ausbeutung und Beherrschung entstehen, bei denen einige die Bedürfnisse der anderen zur Spekulation der Anderen missbrauchen und zur Quelle unzulässiger Gewinne machen… Die Schwächsten sind in der Tat die Opfer der inhumanen Lebensbedingungen.
Papst Paul VI (1960)
Wenn wir auch verschiedenartigen Tätigkeiten zugewandt sind, so ist doch in den Dingen der Stadt keiner ohne Urteil. Bei uns heißt einer, der an den Dingen der Stadt keinen Anteil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.
Perikles, 439 v. Chr
Plädoyer für die Renaissance der europäischen Stadt

Camillo Sitte beschreibt, wie Stadt gelingen kann und wozu sie geschaffen ist. Der Architekt, Stadtplaner, Städtebau- und Kulturtheoretiker und Maler hatte viele europäische Städte besucht und studiert und aus seinem intensiven Studium den Städtebau als Disziplin begründet. Diese Städte von Gestern begeistern uns bis heute und werden es auch noch Morgen tun.

Wann genau beginnt Morgen? Ist die Zukunft hoffungsvoller- und sind unsere Städte besser im Sinne von heilvoller geworden, wie Hans Jochen Vogel schon 1972 forderte? Auf welches Bild von Stadt nehmen er und die anderen Menschen, deren Aussagen wir an der Pinnwand oben gesammelt haben, Bezug? Wurde ihr Rufen erhört?

Mit ihnen teilen wir das Staunen über die Vorzüge der europäischen Stadt. Wir schätzen und lieben sie und wollen ihren Fortbestand und ihre Weiterentwicklung zum Wohle aller gesichert sehen. Entstehung und Entwicklung dieser Stadt ruhen auf einem geistigen Fundament und auf Werten, die seit Jahrzehnten vor unseren Augen nachhaltig unterhöhlt werden.

Mensch und Gemeinschaft im Einklang mit der uns anvertrauten Natur – das ist das Ziel der europäischen Stadt, und das haben ihre Väter in der 5.000-jährigen Entwicklungsgeschichte der Stadt fast immer erreicht. Wir kennen zahlreiche städtebauliche Meisterwerke; Rom, Paris, Wien, Florenz, Barcelona, Prag, Bamberg oder Kopenhagen sind nur einige Städte von vielen, die unser Herz erfreuen. Sie sind zu Recht Teil unseres Weltkulturerbes; ihre Bewohner sind tief mit ihrer Stadt verbunden. Diese Art von Stadt erfüllt wesentliche menschliche Bedürfnisse, wird Teil unserer Identität und zur liebgewordenen Heimat, in der wir Wurzen schlagen können. Und die Verwurzelung ist nach Simone Weil[1] vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.

Markenzeichen dieser Städte ist ihre reiche Vielfalt und harmonische Einheit. Das macht diese Städte einzigartig. Sie stiften Sinn, geben den Menschen Halt und erfüllen das in den Menschen eingeschriebene Grundbedürfnis nach Schönheit.

Foto: rarrarorro / photocase.de
Das höchste Glück des Menschen besteht darin, das Schöne zu schauen.
Anselm Grün

Heute sind unsere Städte zweigeteilt: in eine Stadt davor… und in die Stadt danach…

Während wir über viele Jahrhunderte unsere Städte so gebaut und entwickelt haben, dass die Menschen mit der kontinuierlichen Entwicklung ihrer Stadt einverstanden waren, gab es im letzten Jahrhundert eine folgenschwere Zäsur. Das Ergebnis ist die zweigeteilte Stadt von heute: Die Stadt davor, das ist die baukulturell hochwertige, nachhaltige europäische Stadt mit hoher Akzeptanz bei ihren Bewohnern. Haben die Menschen die freie Wahl, in welche Quartiere sie ziehen möchten, fällt ihre Wahl immer auf die schönen Stadtquartiere, und das sind die Nachbarschaften in der traditionellen europäischen Stadt. Bei allen Veränderungen und neuen Anforderungen im Laufe der Zeit hat sich diese Stadt nachhaltig bewährt und als sehr flexibel erwiesen. Zu ihren wesentlichen Merkmalen gehören eine hohe ästhetische Qualität, eine gemeinwohlfördernde soziale Mischung und das Prinzip der Nutzungsmischung in der Stadt der kurzen Wege, lange vor der Etablierung des Mega-Trends Nachhaltigkeit.

Die Stadt danach

Danach gab es einen radikalen Bruch mit allem Bestehenden durch die Protagonisten der „modernen“ Planungsideologie. Zu ihren Prinzipien gehört der Bruch mit dem „Alten“ verbunden mit dem Zwang zum immer Neuen und permanenter Veränderung, egal wie diese gestaltet ist und auch unabhängig davon, ob die dadurch geschaffenen baulichen Strukturen den Menschen guttun, nachhaltig sind oder dauerhaft von den Menschen angenommen werden. Heimat braucht aber Herkunft.

Weltweit gibt es bis heute kein einziges gelungenes Beispiel des modernen Städtebaus. Und doch bilden seine schädlichen Prinzipien weiterhin die Basis heutiger Stadtentwicklung, übertüncht mit Nachhaltigkeitsbegriffen. Der moderne Städtebau ist der fossile Städtebau per se und sichtbares Zeichen der gesellschaftlichen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte. Dieser fossile Städtebau zeichnet seit 100 Jahren verantwortlich für gut ein Drittel des Energieverbrauchs und der CO2-Emissionen in Deutschland - und für über die Hälfte des Abfallaufkommens, d.h. er ist einer der maßgeblichen Verursacher der ökologischen Krise und des Klimawandels. Der moderne Städtebau (The International Style) folgt wie die dazugehörige moderne Architektur dem Prinzip von der Wiege bis zur Bahre (Cradle To Grave), statt von der Wiege bis zur Wiege (Cradle to Cradle).

Zur Wahrheit gehört: Dem Prinzip der nutzungsgemischten europäischen Stadt der kurzen Wege hat der moderne Städtebau radikal die funktional getrennte Stadt (Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Regenerieren) entgegengesetzt. Zwingende Voraussetzung dieser neuen Stadt war der autogerechte Umbau der historischen Stadt. Dazu wurden riesige Schneisen in den historischen Stadtgrundriss geschlagen, in dem sich doch Gedächtnis und Identität einer Stadt manifestieren. Parallel dazu wurden anonyme, seriell-modular gefertigte Massen-wohnsiedlungen („Neue Heimat“) als Schlafstädte vor den Toren der Stadt errichtet. Die Trennung wird erst jetzt mancherorts mühsam aufgebrochen.

Was wir dabei ebenfalls übersehen, ist die pandemische Vereinsamung vieler, gerade älterer Menschen als Folge des modernen Städtebaus und der reinen Verwertungslogik in der Bau- und Immobilienbranche und mancher staatlicher Institutionen. Darunter sind auch kommunale Wohnungsunternehmen, die hoheitlich von der Politik kontrolliert und bestimmt werden. Ausnahmen bestätigen die Regel. Viele der Heilsversprechen der modernen bzw. Nachkriegsmoderne haben sich als falsch herausgestellt, darunter der permanente Veränderungszwang.

Im Nachhinein stellen wir mit Adolf Loos[2] fest:

„Eine Veränderung, die keine Verbesserung ist, ist eine Verschlechterung.“

Der weltweit anerkannte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber sagte 2021 passend dazu:

„Es gab noch keine Epoche, in der die Menschen so scheußlich, so menschen- und klimafeindlich gebaut und gehaust haben wie heute.“

Um das zu verändern hat Schellnhuber 2021 das „Bauhaus der Erde“ gegründet. Basis der Bauwende soll eine biobasierte Kreislaufwirtschaft sein, und Holz soll in größerem Umfang Beton ablösen.  Das war und ist genau die Forderung aller, die seit 50 Jahren den ökologisch-nachhaltigen Wandel gegen alle Widerstände umgesetzt und vorwärts gebracht haben.

Wir wünschen dem Bauhaus der Erde, dass es sich zu einer Veränderung entwickelt, die eine wirkliche Verbesserung ist. Wir brauchen jetzt wirkliche Verbesserungen in Architektur und Städtebau.


[1] Simone Weil war eine französische Philosophin, Dozentin, Lehrerin und Sozialrevolutionärin jüdischer Abstammung. Ihr Denken war von christlicher Mystik sowie von platonischen und buddhistischen Einsichten geprägt. Albert Camus bezeichnete Simone Weil als „den einzigen großen Geist unserer Zeit“. (Quelle: Wikipedia)

[2] Der österreichische Architekt und Kulturpublizist Adolf Loos gilt mit seiner Ablehnung gegen Ornamente als einer der Wegbereiter der modernen Architektur. Gebäude waren für ihn keine Kunstwerke, wohl aber wichtiges Kulturgut, das stets den Menschen dienen sollte. Dabei war Loos ein deutlicher Kritiker von Bauhaus und Deutschem Werkbund und sprach sich im Bauboom des frühen 20. Jahrhunderts für den Erhalt historischer Stadtquartiere aus. (Quelle: Wikipedia)